1.8. B A L A L A I K A - K L A N G
KLANGPHILOSOPHIE. STIMMUNG. TONALITÄT.
Die Prim-Balalaika als Melodie-Instrument
Die Balalaika ist nicht nur ein Begleitinstrument, das dazu benutzt wird, ein gesungenes Lied mit Akkorden zu begleiten, sondern - und das viel mehr -
ein eigenständiges Melodiespiel-Instrument.
Das besagt auch schon der Name der meist gespielten Balalaika:
P r i m - Balalaika ( auch: Prima Balalaika ): ein Name, der der eine aufschlussreiche Doppeldeutigkeit besitzt.
Prim-Balalaika - Primadonna
Das lateinische Wort "primus, -a, -um" bedeutet "der/die/das erste".
Wer der Primus (die Prima) ist, gibt den Ton an, er begleitet nicht, er führt.
Ein Künstler spielt "die erste Geige" (prima violina)
Eine "Primadonna" ist die erste Sängerin in einem Opernensemble,
eine "Primaballerina" ist die führende Täzerin in einem Ballett.
In der Balalaika-Familie ist die Prim-Balalaika die Primadonna aller Balalaiken.
Da das Wort "Balalaika" in sich das tatarische "bala" = Kind enthält, müßte es allerdings passender heißen "Primo bambino" ( первый ребенок ).
Auch das betont (in analoger Bedeutung zu "primadonna") eine herausragende Stellung: die wahren "Ersten" der Familie sind die Prinzen und Prinzessinnen der Herzen: die Kinder. Zu dieser Kategorie gehört auch die Balalaika.
Melodiesaite
Früher, vor dem 18. Jhd., als die Balalaika (wie heute noch die kasachische Dombra) nur 2 Saiten hatte, war die höher gestimmte Saite die Melodiesaite. Mit dieser Saite sprach und sang die Balalaika: sie war ihr "Stimmband".
Bordunsaite
Die tiefere Saite, die in der Unterquart gestimmt war, diente als Bordunsaite Sie klang zum Melodiespiel der Melodiesaite mit, wurde aber nicht gegriffen.
Die früheBalalaika war also ein Bordun-Instrument, eine Hummel.
Heute hat die Balalaika 3 Saiten. Keine dient mehr als Bordunsaite, alle werden gegriffen. Ausnahme: absichtlich historisierend vorgetragenes Balalaikaspiel
(oder mangelnde Spielfähigkeit).
Das Bordunspiel ist aber oft zu hören bei den historischen russischen Streichinstrumenten (Gudok, Jouhikko, und natürlich bei der Drehleier).
Die Melodiesaite der Prim-Balalaika, ihre höchste Saite, ist auf a`gestimmt.
Dieser Ton ist der "Standard-Kammerton" ( a1 = a´ = A4 = 440 Hz ).
Die beiden anderen Saiten sind eine Quarte tiefer gestimmt, auf e´.
Bei der heutigen Balalaika werden alle drei Saiten in das Melodiespiel mit einbezogen. Der Bordun erklingt nur bei historisiertendem Spiel.
Die "Gesangsstimme" der Balalaika
Kinderstimme
Das heute wohl am meisten verbreitete Saiteninstrument zum Vortragen und Begleiten von Liedern ist die Gitarre. Sie ist ein Universalinstrument mit einem großen Tonvorrat tiefer und hoher Noten.
Die höchste Saite der Gitarre, das e´, entspricht der tiefsten Saite der Prim-Balalaika. Die Balalaika beginnt dort, wo die Gitarre aufhört. Die Balalaika ist ein hochklingendes Instrument, sie spricht (und singt) in der Tonlage eines Kindes.
"Balalaika" ist ein tatarisches Wort; im Tatarischen bedeutet "bala" = "Kind".
Die Tonlage des Kindes
Ein Kind im Kindergartenalter singt meist innerhalb der Oktave von e´ bis e´´, bis zum 10. Lebensjahr wächst der Stimmumfang bis zum a´´.
Gute Musikpädagogen legen Wert darauf, daß in der Musikerziehung der Kinder Lieder in dieser kindgemäßen Tonlage vermittelt und gesungen werden.
Die in Kindergärten beliebte 7-saitige pädagogische Waldorf-Kinderleier hat die pentatonische Stimmung: d', e', g', a', h', d'', e''.
Die Prim-Balalaika äußert sich ebenfalls solcherart kindgemäß:
e´ bis a´´ ist der Tonraum, in dem die Balalaika ihre meisten Lieder spielt.
(Die Halsmensur der Balalaika geht bis zum cis")
"Die Balalalaika spricht sich aus", so kann man es immer wieder von Kennern des Balalaikaspiels und Kennern des russischen Volksliedes hören, die mit diesem Satz die Spiel-und Ausdrucksweise des Instruments charakterisieren.
Der Balalaikaspieler läßt ein Kind sprechen. Er vermittelt den Liedinhalt nicht intellektuell-erwachsenhaft, sondern in der Weite der Emotionalität eines Kindes.
Das gilt auch für den textlichen Inhalt vieler russischer Volkslieder. Scheinbar belanglose Dinge ( der Wind bewegt einen Zweig, die Blütenblätter des Kalinka-Strauches fallen hernieder ) offenbaren - mit Kinderaugen gesehen - eine unermesslich tiefe Bedeutung. Für Erwachsene unwichtige oder scheinbar selbstverständliche Dinge sind für Kinder faszinierende Geschehnisse, die einen sehr weiten Sinnzusammenhang offenbaren. Nur Kinder und Poeten können diese verborgene Welt wahrnehmen.
Das Lied, gesungen und auf der Balalaika gespielt, schließt diese kindlich wahrgenommene Welt auf musikalische Art in seiner Weite und Tiefe auf, bietet sie dar und vermittelt sie an den Zuhörer.
Fünf bis sieben Bünde
Am Anfang war der Tonvorrat ( Diapason) der Balalaika begrenzt. Nur 5 bis 7 Bünde waren auf dem Griffbrett angebracht. Curt Sachs (Real-Lexikon 1913) spricht sogar von nur 4 Bünden. Zum "Sprechen" genügt das:
"Selbst bei extrem melodiöser Sprechweise benutzt der Mensch im Normalfall nie mehr als 4 - 7 unterschiedliche Töne", so der Stimmexperte Max Wagner aus München (in einem Rundfunk-Interview).
Fünfsaitige karelische Kantele und fünfbündige Balalaika.
Fünf Bünde = sechs Töne
Die Fünfbündigkeit der frühen Balalaika ist kein Zufall. Fünf Bünde besaß auch die im Norden Russlands bekannte und beheimatete kleine finnische Zither, die Kantele, ein Psalterium, das aus e i n e m Stück Birkenstamm gefertigt wurde.
In Russland war dieses Psalterium eine Form der "krylovidnye gusli" ("flügelförmige Gusli") . Sie wurde in verschiedenen Größen gebaut. Die kleinste und älteste Form besaß 5 Saiten.
Diese Saitenzahl der Kantele wurde auf die Bundzahl der Balalaika übertragen. Diese Annahme lieft nahe. Dadurch ergab sich bei der Balalaika ein Tonvorrat von 6 Tönen auf einer Saite: der Ton der Leersaite plus die 5 gegriffenen Töne.
Die e i n e Melodiesaite der Balalaika ersetzte die Einzelsaiten der Kantele und fügte sogar noch einen Ton hinzu.
Außerdem hinzuzurechnen ist der Ton der zweiten Balalaikasaite, die als Bordun mitklang.
Die Fünfzahl verweist auch auf die pentatonische Singweise, die ein Merkmal des ostslawischen Gesanges ist. (Wird der Grundton oktaviert, ergibt sich eine Sechszahl.)
Eine beliebte pentatonische Stimmung der Kantele ist: c - d - f - g - a - (c)
Im Fünftonraum werden auch viele alte Kinderlieder und Abzählreime gesungen, und das nicht nur im slawischen Kulturraum, sondern in allen Kulturen.
(Beispiele unter dem Stichwort "Pentatonik", Kinderlieder, bei wikipedia)
Vom Borduninstrument zum Akkordspielinstrument
Das Spiel auf der Balalaika wurde mit der Zeit komplexer.
Beim Melodiespiel wurde die e-Saite nicht mehr nur als - immer gleichklingende - Bordunsaite benutzt, sondern mitgegriffen und in das die Melodiespiel mit einbezogen, entweder um den Tonraum nach unten zu vergrößern, oder um die Melodie mit Akkorden zu begleiten (zumeist Terzbegleitung). Als der 2-saitigen Balalaika eine weitere e-Saite zugefügt wurde, war ein sehr ausdrucksvolles Melodiespiel in Dreiklängen möglich - und ein zweiter Effekt trat ein:
der Klang wurde der vielsaitigen Gusli ähnlicher bzw der ukrainischen Bandura.
Jakob von Stählin berichtet im Jahr 1769, daß es ein blinder ukrainischer Pandoraspieler war, der der zweisaitigen Balalaika eine dritte Saite zufügte.
Stählin hat den Pandoraspieler am St. Petersburger Hof persönlich kennengelernt.
Asiatische und russisch-westeuropäische Stimmung
Es muß daran erinnert werden, daß die Balalaika (unter dem Namen "Tanbur"
und seinen sprachlichen Ableitungen) auch bei den Persern, vielen zentralasiatischen Völkern. u.a. auch bei den Tataren verbreitet war und von
diesen auch "asiatisch" gespielt wurde, d.h. orientalisch und nicht europäisch.
Die Bünde des Instruments, wenn überhaupt vorhanden, waren verschiebbar,
so daß die asiatischen Balalaiken (Tanburen) auch Tonfolgen hervorbringen
konnten, die für europäische Ohren ungewohnt klangen, z.B. "orientalische" Vierteltonschritte .
Der Klang und die Spielweise der asiatischen Balalaika war für die Russen fremd und nicht annehmbar. Zum Beispiel war die tatarische Spielart auf der kasachischen Dombra für das russische Musikempfinden ungenügend.
Das russische Ohr war an den Klang des westeuropäischen Gusli-Psalteriums gewöhnt. Dieses Zitherinstrument hatte fest eingestellte Töne und war "westlich" gestimmt, nämlich diatonisch.
Was lag näher, als die Stimmung und den Klang der Gusli auf die Balalaika zu übertragen? Die Balalaika bekam
1. die westlich-diatonische bzw. pentatonische Saitenstimmung der Gusli
2. die Dreiecksform (und damit den Klang) der Gusli
Eine in Quarten gestimmte Balalaika ( e - a ) mit 5 diatonisch gesetzten Bünden erzeugt neun verschiedene Töne: sie hat einen Tonumfang von 1 Oktave plus einem Ganzton. Das bedeutet: eine zweisaitige Balalaika ersetzt eine 9-saitige Gusli.
Diatonische Dur-Stimmung 9 Töne:
e´ - fis´ - gis´ - a´ - h´ - cis´´ - d´´ - e´´ - fis´´
Hier der Tonvorrat auf der E- und der A-Saite: (Fettdruck: 9 Töne)
1 2
3 4 5
A-Saite = a´ - - h´ - - cis´´ - d´´ - -
e´´ - - fis´´
E-Saite = e´ - - fis´ - - gis´ - a´ - - h´ - - cis´´
Bei pentatonischer Stimmung, die einen großen Abstand zwischen 1. und 2. Bund aufweist (es sind 3 Halbtöne = kleine Terz, "Moll-Terz"), ergibt sich ein Tonvorrat von ebenfalls 9 Tönen.
Pentatonische Stimmung 9 Töne:
e´ - fis´ - a´ - h´ - cis´´ - d´´ - e´´ - fis´´ - a´´
(Tonumfang bei pentatonischer Bundierung: 1 Oktave plus 1 Quarte)
Hier der Tonvorrat auf der A- und der E- Saite:
1 2 3 4 5
A-Saite = a´ - h´ - - d´´ - - e´´ - - fis´´ - - a´´
E-Saite = e´ - fis´ - - a´ - - h´ - - cis´´ - - e´´
Akkorde und Dreiklänge
Als die Balalaika mit einer dritten Saite versehen wurde, war sie imstande,
Dreiklänge zu spielen: ein gewaltiger Zugewinn an Klangreichtum.
Die Dreiklänge und ihre Umkehrungen gehören heute zum Standard des Balalaikaspiels und geben dem "dulce melos" des Balalaikaklangs seine Weite
und Tiefe.
Das Diatessaron in der russischen Volksmusik:
Quart-Stimmung und Quart-Intervall
Die Saiten der Balalaika sind in Q u a r t e n gestimmt. Die Prim-Balalaika, die meist gespielte Balalaika, hat die Stimmung e´ - e´- a´.
Die Quarte ( Aufwärtsquarte in ihrer reinen Form )
ist das Frequenzverhältnis 3 : 4 ( bezogen auf den Grundton 4:4 )
ist der 4. Ton der diatonischen Tonleiter (lat. quartus = der vierte)
ist die um 5 (!) Halbtöne verkürzte Saite
(bei chromatischer Bundierung, bezogen auf den Grundton der Leersaite)
Das Diatessaron, der Quartraum (hier das Quart-Intervall), markiert nicht nur die Leerstimmung der Balalaika, sondern bestimmt auch den Charakter ihrer Spielart.
Die Quartstimmung steht in Überein-"Stimmung" mit der russischen Musikalität; die Prosodie des russischen Volksliedes ist quartengeprägt. Auffällig häufig begegnet im russischen Volksgesang die Abwärts-Quarte.
Die "zwei Seelen" der Quarte
Die Quarte ist ein schillernder, grenzwertiger Akkord. Die Quarte wird sowohl als konsonant als auch als dissonant empfunden.
Sie kann ein Signalton sein (das Martinshorn der Feuerwehr), mit dem wir kaum Poesie und Romantik verbinden, sie kann aber auch - als fallende Quarte - Seelenschmerz, Resignation, Verlust, Traurigkeit und Melancholie ausdrücken.
Die fallende Quarte
gilt als das charakteristische Intervall des russischen Volksliedes. Die im Singverlauf immer wiederkehrende fallende Quarte verleiht dem Gesang das, was wir "typisch russisch" nennen.
Jakob Stählin schreibt in seinen 1770 veröffentlichten "Nachrichten von der Musik in Russland":
"( ...) ebenso hat auch die gemeine russische Lands-Melodie zum
Atemholeni hren Absatz bei jeder Zeile, der aber immer in die
Q u a r t e fällt. Ja viele endigen auch in diesem Ton anstatt des
Grund-Tones." (Seite 64)
Getragener Gesang
Die fallende Quarte ( = Schwingungsverhältnis 3 : 4 ), die den Melodieverlauf vieler russischer Volkslieder bestimmt, drückt ein Gefühl Traurigkeit aus, aber keine Traurigkeit, die ins Bodenlose fällt, sondern die aufgefangen ist.
Die fallende Quarte ist der musikalische Ausdruck für das seufzende Ausatmen. Die Weite der getragenen Melodik, die für eine große Anzahl russischer Volkslieder typisch ist, findet in der Quarte ihren Ruhepunkt.
Lamento-Quarte
Die fallende Quarte wird auch in der europäischen Kunstmusik benutzt, um
diese psychische Bewegung wiederzugeben. Die "Lamento-Quarte" (ein diatonischer oder chromatischer Abwärtsquartenlauf) wird eingesetzt, um den klagenden traurig-melancholischen Charakter eines Musikstücks auszudrücken.
Das mittelalterliche Denken verband mit den musikalischen Intervallen häufig eine theologische und psychologische Symbolik.
So wurde in der Kirchenmusik gefordert, ausschließlich die Oktave als Symbol für die Vollendung und Seligkeit aller Heiligen in Gott zu verwenden;
die Quarte dagegen sollte die Klage über irdische Unvollkommenheit und über das Unfertige ausdrücken. (Vgl. wikipedia, Quartenharmonik)