
3.2. Das russische Psalterium
Die Gusli
( Bild rechts: eine schlemovidnye gusli )
Bevor die Balalaika in Russland durch Andrejew 1883 ihren Aufstieg erlebte, gab dort die Gusli den Ton an. (vgl. 1.4.1)
Die Balladen der Skomorochen (der fahrenden Musikanten), die Heldenepen, die Volkslieder und Romanzen wurden zur Gusli vorgetragen und auf der Gusli begleitet. Diese alten Gesänge nannte man Stariny (pl.), (starina von russ. stary=alt). Ab dem 19. Jhd. verwendete man dafür die Bezeichnung "Bylinen". Zentralmotiv der Bylinen sind historische Ereignisse, meist wird geschildert der siegreiche Kampf russischer Helden und Heerführer gegen die kriegerischen Tataren.
E i n e russische Stadt ist besonders mit der Gusli verbunden: Nowgorod, die Stadt, in der das erste russische Reich gegründet wurde.
3.2.1. Nowgorod und die Gusli
Die Gusli war das Instrument des legendären Sadko, des Sängers und Kaufmanns aus Nowgorod. Eine alte Byline berichtet, daß er mit seinem Spiel alle, die im Reich des Meerkönigs lebten, betörte. Der Komponist Nikolai Rimski-Korsakow setzte ihm in seiner Oper "Sadko" ein Denkmal und machte ihn dadurch auch außerhalb Russlands bekannt.
Die Gestalt des Sadko geht zurück auf einen historisch bezeugten Kaufmann Sadko, der im 12.Jahrhundert in Nowgorod lebte.
Nowgorod Weliki, am Wolchow gelegen, nördlich von Moskau, (nicht zu verwechseln mit Nishnij Nowgorod an der Wolga, östlich von Moskau), war seit 1184 ein Stützpunkt der Hanse und die größte Handelsstadt im östlichen Europa. Sie war das Bindeglied zwischen der Ostsee und dem Mittelmeer/Schwarzem Meer/Kaspischem Meer. Über Nowgorod fand der Kulturaustausch statt zwischen Europa und dem Orient. Die Handelsverbindungen gingen bis China, Indien und Persien (die Wolga verbindet Nordrussland mit Persien). Waren aller Art waren auf dem Markt in Nowgorod erhältlich, es gab in Nowgorod 8 Handelsplätze.
Gewiß gehörten auch Musikinstrumente zu den Handelsgütern.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß über Nowgorod das in Westeuropa sehr populäre Psalterium, das in zahlreichen Abbildungen der westlichen Buchmalerei bezeugt ist, seinen Weg nach Russland fand und dort mit der älteren aus Persien stammenden Hals-Laute, der Tanbur, in Konkurrenz geriet.
Beide Instrumente wurden in Russland geliebt. Die Folge dieser Liebe war, daß aus der Verbindung von Tanbur und Psalterium die Balalaika entstand.
Somit wäre die Handelsstadt Nowgorod als Keimzelle zur Entstehung der heutigen Balalaika anzusehen.
Ein weiteres Instrument wird gerne vergessen: der Gudok , die russische Ausführung des Rebec, einer Geige. Älteste Funde dtsammen aus Nowgorod.
Über den genauen Verlauf der Wege, wie all diese Instrumente nach Russland gelangten, kann man natürlich nur spekulieren. Ob von slawischen Stämmen ins spätere Kiewer Reichsgebiet mitgebracht, oder von Kaufleuten in dieses eingeführt, darüber gibt es keine Kunde. Eine historische Sicherheit wird man nie erreichen.
Was den Weg des Psalteriums anbelangt, muß man bedenken, dass das Psalterium nicht nur in Europa verbreitet war. Das Psalterium war sowohl in Persien als auch in Byzanz beheimatet. In Persien trug dieses Instrument (seit Alexander dem Großen) den gräzisierten Namen "Santur".
Somit wären drei Wege möglich, auf denen das Psalterium nach Russland gelangen konnte: aus West- oder Nordeuropa über die Ostsee, aus Persien über das Kaspische Meer und aus Byzanz über das Schwarze Meer. In Nowgorod liefen alle drei Wege zusammen.
Der Sänger Sadko aus Nowgorod spielte die Gusli, nicht die Balalaika. Die Balalaika hat es damals im 12. Jhd. schon gegeben, aber nicht in ihrer heutigen dreieckigen Form. Sie hieß auch noch nicht Balalaika, sondern Tanbur. Die damalige "Balalaika" war eine Laute mit langem Hals und kleinem Korpus, die wie die persische Tanbur eine ovale Form besaß ("Holzlöffel-Balalaika"). Sie hat auch nur 2 Saiten besessen. Mit der Klangfülle der mehrsaitigen Gusli konnte sie nicht mithalten.
Die Gusli war im 12. Jhd unter den Saiteninstrumenten in Russland die Nr.1 und sollte es lange Zeit bleiben.
Mit ihrem Guslispiel verzauberten berühmte Spieler und Sänger ihre Zuhörer.
Legendäre Spieler waren: Sadko, Bojan, Dobrynja Nikititsch.
Der Guslispieler Sadko aus Nowgorod
Mit keiner anderen Stadt ist das Guslispiel so sehr verbunden wie mit Nowgorod.
Denn hier in Nowgorod lebte der legendäre Guslispieler und Kaufmann Sadko.
Eine bekannte Byline berichtet, wie er mit seinem Spiel alle, die im Reich des Meerkönigs lebten, betörte. Der Komponist Nikolai Rimski-Korsakow setzte dem Guslispieler Sadko in seiner Oper "Sadko" ein Denkmal und machte ihn auch außerhalb Russlands bekannt.
Die Gusli gab es auf dem Markt in Nowgorod in vielen Formen. Die Sadko-Byline macht leider keine Angabe darüber, wie das Instrument des Sadko aussah und wie viele Saiten es hatte. Buchillustratoren der Sadko-Byline zeigen jeweils ein anderes Instrument.
Bylinen sind Dichtungen, die Märchenhaftes mit Historischem vermischen. Die Gestalt des Sadko ist historisch bezeugt und bezieht sich auf einen Sadko, einen reichen Kaufmann, der im 12.Jahrhundert in Nowgorod lebte.
Der Sänger und Guslispieler Bojan
Ein weiterer legendärer Guslispieler ist der Sänger Bojan, von dem das "Igorlied" berichtet, eine Dichtung aus dem 12. Jahrhundert. Bojan hat im 11.Jhd. gelebt und besang den militärisch Ruhm dreier russischer Fürsten siner Zeit: Jaroslaw des Weisen, Mstislaw, der den Tscherkessenhelden Rededa bezwang, und Roman Swjatoslawitsch. Bojan gilt als der Begründer des gesungenen russischen Heldenepos. Im Igorlied heißt es: "Er schlug mit kundigen Fingern die tönenden Saiten."
Der Drachentöter Dobrynja
Der dritte legendäre Guslispieler ist Dobrynja Nikititsch, von dem zahlreiche Sagen berichten. Er lebte am Hofe des russischen Herrschers Wladimir des Heiligen, der von 980 bis 1015 Fürst von Kiew war.
Als Russland von den Mongolen und Tataren beherrscht wurde (seit 1223), scheint der Gebrauch der Gusli zurückgedrängt worden zu sein zugunsten der Langhalslaute Tanbur/Dombra, die unter dem Namen Balalaika bei diesen Völkern ein häufig gespieltes Instrument war.
Auf dem Bild oben (Quelle:wikipedia) ist zu sehen eine Schlemovidnye Gusli ("helmförmige Gusli "). Der Helm hat die Form eines Kokoschnik, der traditionellen Kopfbedeckung der Frauen. Die abgebildete Gusli zeigt eine Dreiecksform mit gerundeten Seiten. Eine solche Gusli sollte der Balalaika später ihre Gestalt (und ihren Klang) geben.
In russischen Bildillustrationen zum Bylinentext wird meist diese helmförmige Gusli als Instrument des Sadko gezeigt.
Die Schlemovidnye gusli hat zwar einen annähernd halbkreisförmigen Korpus, das Saitenfeldes aber zeigt die bekannte Grundform des symmetrischen Dreiecks bzw. des symmetrischen Trapezes.
(siehe nachfolgende Skizze)
Welches Instrument ist das ältere: Balalaika oder Gusli ?
Ist die dreieckige Gusli älter - oder die ovale Balalaika? Die ovale Balalaika hieß bis zum 12. Jhd. "Tanbur" oder - davon abgeleitet - "Dombra".
Siehe Bild oben: persische Tanbur.
Es scheint so, als ob die Balalaika älter ist als die Gusli, also: die Langhalslaute (Balalaika) älter ist als die Kastenzither (Gusli). Jedenfalls ist die Langhalslaute schon seit mehr als 1500 Jahre v.Chr. auf Zeichnungen bezeugt (in Ägypten im Neuen Reich seit 1550 v. Chr., Höhlenzeichnung in Zentralasien).
Für die Gusli (das Psalterium, die Zither) fehlen solche alten Zeugnisse; aber sie sind vorhanden, wenn man die Dreiecks-Harfe als Psalterium definiert.
Psalterium und Harfe
Von der Harfe zur Zither ist es kein weiter Schritt: eine Rahmenharfe, auf eine Holzplatte gelegt und in dieser waagerechten Lage gespielt, wird zu einer Zither.
Also: die ganze Instrumentenkunde betr. Balalaika, Zither, Harfe ... ist unklar und bleibt spannend. 100%ige Beweise können nicht erbracht werden. Es ist alles eine Frage der Deutung und Zuordnung und der Spekulation.
Eines ist sicher:
Die europäische Bauform der Kastenzither (Scheitholt, Psalterium) war im Mittelalter in allen europäischen Ländern verbreitet.
( Vergleiche dazu das Buch von Hans Kennedy "Die Zither in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft")
3.2.2. Gusli und Balalaika in Russland
Beide Instrumente, Balalaika und Gusli, waren in Russland populär - jedes dieser beiden Instrumente hatte seine Zeit.
Die nachfolgende Zeittabelle gilt nur als ungefähre Orientierung. Sie bedarf noch der genauen Quellennachweise. Zu berücksichtigen ist auch, daß beide Instrumente nicht nur zu verschiedenen Zeiten dominierten, sondern dass ihre Verbreitung auch regional unterschiedlich war. Es ist also ein sehr grobrastiges Schema.
10. Jahrhundert: Die Balalaika in Russland
Eine schriftliche Quelle aus dem 10. Jahrhundert berichtet über die Popularität der Balalaika in Russland. Verfasser ist der Sekretär des Kalifs von Bagdad. Er verzeichnet in seinen Notizen, dass in der Begräbniszeremonie bei den „Russen“ neben Nahrungsmitteln auch eine „Tanbur“ mit ins Grab gelegt wurde.
"Tanbur" oder "Dombra" war der alte Name für "Balalaika".
(Quelle: Das russische Musikquartetts "Exprompt". Die Mitglieder sind Absolventen des Konservatoriums in Petrosavodsk und informieren auf ihrer Website über russische Musikinstrumente: http://www.exprompt.ru)
11. - 12. Jahrhundert: Die Gusli verdrängt die Balalaika
In Russland war die Zither ( das Psalterium) im 12. Jahrhundert sehr beliebt und populär (unter dem Namen Gusli), so sehr, daß die Gusli die Langhalslaute, die damals in Russland noch nicht Balalaika hieß, in den Hintergrund drängte.
Legendäre Gusli-Spieler: Dobrynja Nikititsch (11. Jhd.), Bojan, Sadko.
12. - 15. Jahrhundert: Die Balalaika verdrängt die Gusli
Zur Zeit der Tatarenherrschaft über Russland (1223-1480) fand eine Verschmelzung von slawischer und tatarischer Kultur statt.
Die alte persische Tanbur, die wohl auch in Russland "Tanbur" hieß, war ein auch bei den Tataren populäres Instrument. Bei den Tataren wurde die Tanbur "Dombra" oder "Balalaika" genannt. Der Name "Balalaika" wurde in die russische Sprache übernommen - und wahrscheinlich auch tatarenspezifische Bauarten der Tanbur/Dombra/Balalaika.
16. -19. Jahrhundert: Die Gusli verdrängt die Balalaika
Nach Ende der Tatarenherrschaft begann wieder eine Orientierung nach Europa und damit eine Hinwendung zur Gusli. Die Gusli war ein in Europa verbreitetes Instrument (Psalterium, Zither). Zar Peter der Große führte später diese Öffnung nach Westen auf energische Art weiter.
Die Gusli war außerdem ein Instrument, das an die "goldene Zeit" der Kiewer Rus erinnerte, sie war das Instrument von Dobrynja, Bojan und Sadko - ein Instrument, das fähig war, das russische Nationalbewußtsein nach 250 Jahren Fremdherrschaft zu stärken.
Am Ende des 19. Jhds. veröffentlichte die russische Künstlerin Елизавета Меркурьевна Бём (1843-1914) ein illustriertes Alphabet für Kinder. Der Buchstabe "G" zeigt eine Gusli, von einem Kind gespielt. Auf den Bildern zum Buchstaben "B" wird eine Balalaika n i c h t dargestellt.
19. - 20. Jahrhundert: Die Balalaika verdrängt die Gusli
Seit dem Jahr 1883, als Wassili Andrejew die Balalaika veränderte und im großen Stil bekannt machte, begann die Balalaika wieder an Popularität zu gewinnen.
Andrejew hatte eine wichtige Entwicklung der Balalaika eingeleitet: er orientierte den Korpus der Balalaika an der Form der Gusli: die dreieckige Gusli prägte die Form der Balalaika. Balalaika und Gusli wurden sozusagen eins.
"Die Gusli - das russische Nationalinstrument"
Der Klang der Gusli war den Russen vertraut und prägte ihre Gesangskultur. Die Gusli war in Russland sehr verbreitet, sie galt als d a s russische Volksinstrument. Russischer Liedgesang und Gusli-Klang gehörten zusammen.
In der Ausgabe 1877 von "Nikolai Rimsky-Korsakov, 100 russische Volkslieder" schreibt der Übersetzer als Anmerkung zu Lied Nr. 26 :
"Die Gusli (pl.) sind das verbreitetste russische
Nationalinstrument,
das in vielen verschiedenen Formen vorkommt,
ungefähr unserer Zither oder Laute vergleichbar."
Eine Balalaika wird in den Fußnoten des Übersetzers nirgendwo erwähnt.