1.2. DOKUMENTATIONEN IN BILD UND TEXT
Die Andrejew-Balalaika ( seit 1884 )
und historische Balalaikaformen vor Andrejew.
("The pre-Andreyev period")
Typen-Skizze:
Die 16-bündige chromatische Andrejew-Balalaika
gebaut ab
1885

Die Balalaika, wie wir sie heute kennen (als 3-saitiges Zupfinstrument mit breitem dreieckigem Korpus), ist die von Wassili Andrejew 1883 modifizierte Balalaika. Das 1. Modell dieser "Andrejew-Balalaika" wurde 1884 in Bezetsk in einer Tischler-Werkstatt angefertigt.
Diese Bezetsker Balalaika baut auf d e m Instrument auf, das Wassili Andrejew 1883 auf dem elterlichen Gut in Marjino (im Gouvernement Twer) kennenlernte, studierte, weiterentwickelte und weltweit bekannt machte (z.B. Weltausstellung in Paris).
Andrejew gilt als "Vater" der modernen Balalaika", obwohl er erst 23 Jahre alt war, als er die ersten Veränderungen an dem Instrument vornahm. Er verbesserte das alte russische Volksinstrument dahingehend, daß er (- um es auf eine poetische Art auszudrücken - ) durch bauliche Modifikationen die der Balalaika innewohnende "Klangseele" strahlender aufleuchten ließ.
Sein Ziel war primär die Maximierung des Klanges, nicht die Veränderung der Form.
In der "Klangseele" der dreieckigen Balalaika schwingt der Dulce-melos-Klang der Gusli mit. Der Klang der Gusli, der alten russischen Kastenzither, wurde von den Russen über alles geliebt. Im 12. Jhd. gab es in Nowgorod berühmte Guslispieler. Die Gusli war das russische Nationalinstrument. Andrejew machte die Balalaika gusli-ähnlicher in Klang und Form.
Die Gusli ist eine Kastenzither in Flügelform (krylo). Besonders die breit-dreieckige Form (gusli schlemovidnye) hatte einen sehr voluminösen Klang und war in Russland außerordentlich beliebt. Andrejew trug dazu bei, daß die schmal-dreiecksflüglige Balalaika ihre Flügel wie ein Schmetterling ausbreitete, gusliähnlicher wurde und so zu ihrer vollkommenen Endgestalt gelangte.
Die Balalaika ist von der Instrumentenart her (nach Hornbostel/Sachs) eine Laute, genauer: eine gezupfte Langhalslaute mit Schalen-Korpus. Andrejew beließ ihr ihre Identität: die Seitenansicht macht dies deutlich. Die Draufsicht aber zeigt: Der Korpus der Balalaika nahm die typische breite dreieckige Form des russischen Psalteriums, der Gusli an.
Man kann also die Andrejew-Balalaika als ein Hybrid-Instrument bezeichnen: eine Laute/Psalterium-Hybride.
Balalaika und Wolga
Die Balalaika in ihrer heutigen Form, die Andrejew-Balalaika, ist im Gebiet von Twer
(Тверь) entstanden. Das Gouvernement Twer, 1775 gegründet (heute Oblastj Twer), ist aber nicht nur bedeutsam als Entstehungsort der modernen russischen Balalaika, sondern auch als Ursprungsort einer anderen russischen Berühmtheit: der Wolga.
Die Wolga mündet in das Kaspische Meer und stellte so für Russland die Verbindung mit Persien her. Die Wolga war ein wichtiger Handelsweg, bereits in vor-russischer Zeit: zur Zeit der Waräger. Die ersten Balalaiken - damals noch "Tanbur" genannt - werden auf diesem Wege , auf der Wolga, in das Gebiet des ersten russischen Staates gelangt sein. Der erste russische Staat wurde 862 in Nowgorod gegründet und später durch den russischen Historiker Karamsin "Kiewer Rus" genannt.

Die Wolga, der bekannteste und legendärste aller russischen Flüsse, "Mütterchen Wolga" genannt, entspringt in den Waldaihöhen ( Валдайская возвышенность) nahe dem Dorf Wolgowerchowje bei der Stadt Ostaschkow im Oblastj Twer.
Die Stadt Waldai gehört zum Oblast Nowgorod. Sie ist bekannt durch ihre Glocken- gießereien. Die Glöckchen, die unter der Duga, dem Jochbogen der russischen Pferdegespanne (Troika) gehängt sind, wurden in Waldai gegossen.
Hat der Klang dieser Glocken vielleicht Maßstäbe gesetzt für die Gusli und die Balalaika?
Die Waldaihöhen erstrecken sich hauptsächlich über die heutigen Oblasti Twer, Nowgorod und Smolensk. Auch der Dnepr hat sein Quell-Areal in den Waldaihöhen.
Der Dnepr ( die Römer nannten ihn "danupris") ist der "Tauf-Fluß" Russlands. In seinen Wassern empfing der Kiewer Fürst Wladimir 988 die Taufe (übrigens völlig freiwillig!) und legte damit den Grundstein zur russisch-orthodoxen Kirche und damit verbunden - zu einem unglaublichen kulturellen Aufblühen Russlands. Zu den ersten großen kulturellen Leistungen der Kirche gehörte - noch vor 988 - die Einführung einer russischen (kirchenslawischen) Schriftsprache: das glagolithische Alphabet, geschaffen von Kyrill, der aus Thessaloniki stammte.
Später wurde dieses Alphabet in Bulgarien reformiert und zu Ehren von Kyrill das "kyrillische Alphabet" genannt.
Balalaika - russischer Gesang - Psalmen
Die russisch-orthodoxe Kirche allerdings hat das Balalaikaspiel - um es in gelinder Form auszudrücken - nicht sehr gefördert. Zu wenig fromm waren ihr die Lieder, die auf der Balalaika gespielt wurden.
Hätten die Kirchenvertreter doch genauer hingehört: sie hätten festgestellt, daß russische Volkspoesie und die Sprache der Psalmen sehr verwandt miteinander sind.
Balalaika-Formen
Mit der Bezeichnung "Balalaika" wurden seit dem 13. Jhd. (seit der Mongolen-
herrschaftüber Russland) Lauteninstrumente von sehr verschiedener Form und Bauart benannt: ovale, schaufelförmige und dreieckige Lauten; Lauten aus Holz (der Korpus aus einem Stück bestehend, oder aus Holzteilen zusammengesetzt) oder aus einem Kürbis hergestellt (Kürbisbalalaika). Diese alle wurden "Balalaika" genannt.
Ob die Tataren selber diese Bezeichnung verwendeten oder ob das Wort "Balalaika" eine russische Sprachschöpfung in Anlehnung an ein tatarisches Wort ist, ist unklar. In den russisch-tatarischen Grenzgebieten gab es oft einen Sprachmix.
Die Andrejew-Balalaika -
Dreieckiger Schalen-Korpus in zusammengesetzter Holzbauweise
Die Balalaika, die Andrejew 1883 zum ersten Mal in Händen hielt, war keine Kürbis-Balalaika, sondern eine Holz-Balalaika. Von der aber gab es zwei Ausführungen:
1. Die dolbljonaja balalaika (aus einem einziges Stück Holz geschnitzt)
2. Die aus einzelnen Holzteilen zusammengefügte Balalaika
Der Korpus dieser Balalaika bestand - im Unterschied zu frühen nordrussischen Balalaika-Formen - nicht mehr aus e i n e m Stück, sondern war - wie eine Mandoline - aus mehreren Holzteilen ("Planken", "Streifen", "Spänen", Deckbrett und evtl. Zargen ) zusammengeleimt.
Solche Balalaiken waren in jener Zeit keineswegs immer primitive "zusammengeschusterte" Bauern-Instrumente ("Dorf-Balalaiken") , sondern entstanden oft in guter handwerklicher Ausführung und sogar in wertvoller Kunsttischler-Arbeit. Diese Balalaiken besaßen einen langen schmalen Hals, ihr Korpus war klein, dreieckig und schmal. Oft hatten diese Instrumente nur 2 Saiten.
Andrejew vergrößerte zuerst den Korpus und nahm dann noch eine Anzahl anderer Veränderungen vor.
Kurzbeschreibung der Andrejew-Balalaika
(Baugröße: Prim-Balalaika. Mensur 43,89 cm)
1. Korpusform: Dreieck:
Symmetrisches, annähernd gleichseitiges Dreieck mit
schwach konvex (nach außen) gebogenen Seiten
2. Korpusbauart: aus Holzteilen zusammengesetzer Resonanzkörper
( Schale oder Kasten - oder Zwischenformen )
3. Gesamtlänge: ca. 67 cm (+/- 2cm)
4. Korpusbreite: Breite im Verhältnis zur Mensur = 1 : 1 ( Gusli-Regel )
Bei der Gusli bestimmt die längste Saite die Breite des
Instruments. Obwohl die Balalaika längslaufende Saiten
hat, findet diese Regel häufig bei ihr Anwendung.
5. Hals: Langer schmaler Hals mit aufgeleimtem Griffbrett
6. Griffbrett mit Bünden. Anfangs 5 verschiebbare Bünde, diatonisch.
Andrejew verwendete fest eingelassene Bünde aus Metall.
Tonumfang der H a l s mensur: 1 Oktave + 4 Halbtöne. Chromatische Stimmung: 16 Bünde.
7. Saitenzahl 3 Saiten ( auch doppelchörig: 6 Saiten )
8. Stimmung: e´- e´- a´ (Prim-Balalaika)
9. Mensur: Zwischen 42 u. 46 cm, je nach Bauart u. Kundenwunsch.
Die Andrejew-Mensur betrug 9 7/8 Werschok 0= 43,89 cm
(Eine 9 6/8 Werscok-Mensur entspricht 17 Zoll = 43,2 cm )
10. Saitenstrecke: Wirbel
Wirbelbrett
Obersattel
Null-Bund (oft mit dem Obersattel identisch)
Halsmensur (Strecke zw. Nullbund und Hals-Ende)
Korpusmensur (Strecke zw. Hals-Ende und Steg)
Steg (=Brücke)
Saitenstrecke zwischen Steg und Untersattel
Untersattel
Saitenaufhängung (Saitenhalter) am Heckbrett (Sadinka)
(engl.: transom)(back-board).
3 Arten der Saitenaufhängung sind üblich:
1. Gemeinsamer Saitenknopf für alle 3 Saiten.
(so bei frühen Balalaikenformen: Spießlauten)
2. 3 separate Saitenknöpfe für jede einzelne Saite.
(häufig heute bei in Russland hergestellten Balalaiken)
3. Metallplatte mit ausgestanzten Haken für jede Saite.
Die Metallplatte ist oben abgewinkelt: der Kantenwinkel
dient als als Untersattel. Der Saitenhalter ist
angeschraubt am Heck-Brett (Sadinka), Oberkante.
1.3.0.1. Das nebenstehende Bild zeigt den Balalaikaspieler Antip
und die Balalaika, auf die Andrejew 1883 auf dem Gutshof in Marjino aufmerksam wurde. Antip war auf dem Gutshof als слуга beschäftigt.
Wie auf dem Foto zu sehen ist, handelte es sich um ein Instrument, dessen dreieckiger Korpus aus einzelnen Holzteilen zusammengesetzt ist, also ein Instrument der im Kapitel
(Systematik der Balalaika)
beschriebenen Bauart 4. Bauart 4 bedeutet: die Balalaika hat einen Korpus in dreieckiger Form, zusammengesetzt aus miteinander verleimten Holz-Teilen ("Streifen", "Spänen", "Planken") (evtl. auch Zargen, was aber auf dem nebenstehenden Foto nicht eindeutig zu erkennen ist).
Was den (Handels)Wert einer solchen - wie auf dem Foto angebildeten - Balalaika betrifft, gibt es verschiedene Einschätzungen.
Die einen behaupten, hier handle es sich um eine primitive "samodeljnaja krestjjanskaja balalaika" ("selbstgebaute Bauern-Balalaika"), ein Billiginstrument.
Andere weisen darauf hin, daß Balalaiken dieser Art kunstvolle instrumentenbauerische Werke waren, deren Herstellung große tischlerische Fähigkeiten voraussetzte; sie konnten nicht von jedermann angefertigt werden. Solche Instrumente waren wertvoll, sie waren ein kostbarer Besitz und sie waren keineswegs billig im Preis.
Die folgende Aussage bezieht sich wohl nicht auf eine "Bauern-Balalaika" (deren Preis lag unter 1 Rubel), sondern auf Balalaiken, die in Instrumentenwerkstätten gefertigt waren:
"Bei den damaligen Preisen kosteten Balalaikas ziemlich viel
- von 10 - 200 Rubeln.
Zum Vergleich - eine Kuh konnte man zu dieser Zeit
für 10 Rubel kaufen".
(Zitat aus einer Sendung des Radios "Stimme russslands" vom 24. 4. 2011
"Aus der Geschichte der Balalaika".)
http://german.ruvr.ru/radio_broadcast/4002630/49466174.html
Der Name des Balalaikaspielers und Besitzers der Balalaika auf dem Foto oben ist bekannt: Antip, ein Angestellter ( слуга ) auf dem Andrejewschen Gutshof.
Sein Spiel auf der Balalaika fiel auf fruchtbaren Boden: Andrejew war nicht nur ein neugieriger Zuhörer, sondern er war ein großes musikalisches Talent. Er spielte Klavier, Violine und Harmonika und komponierte selber. Sein Interesse galt der Musikwissenschaft und der Instrumentenkunde. In St. Petersburg studierte er Violine.
Als er das Blalaikaspiel hörte, war von dem Klang begeistert. Sein Leben sollte von nun an von der Balalaika bestimmt werden.
Er erlernte selber das Balalaikaspiel, erforschte das Instrument und vervoll-kommnete es. Er vermehrte die 5 Bünde, die das Instrument besaß, und schuf eine chromatische Bundierung (zuerst mit 12 Bünden, dann mehr), außerdem vergrößerte und verbreiterte er den Korpus und verkürzte den Hals.
Die beiden bekanntesten Instrumentenbauer, mit denen Andrejew zusammenarbeitete, waren Franz Passserbski und Semjon Nalimov.
Nalimow war eigentlich kein Instrumentenbauer, sondern Kunsttischler. Er besaß aber ein ausgeprägtes musikalisches Gehör und konnte "klingendes Holz" von klang-totem Holz unterscheiden. Da er für seine Instrumente nur bestes Tonholz verwendete, gehören seine Balalaiken zu den begehrtesten und wertvollsten. Nalimow wird mit dem italienischen Geigenbaumeister Stradivari verglichen und deshalb auch "der russische Stradivarius" genannt.
Die folgende Skizze, entnommen einer Dokumentation über die Arbeiten Nalimows, zeigt, welche Veränderung die Balalaikaform durch Andrejew erfahren hat:
Die obige Skizze zeigt anschaulich, wie sich die Proportionen der Balalaika seit Andrejew verändert haben:
Verkürzung des Halses zugunsten einer Vergrößerung des Korpus.
Bildnachweis:
Der oben abgebildete Auszug aus работы Н. Штибера "В.В. Андреев.
Очерк его деятельности. С-П., 1898 г. ist entnommen der Website des russischen Volksinstrumenten-Quartetts "Skaz", das ein frei verfügbares Nalimow-Archiv bereitgestellt hat.
Die Bildunterschrift lautet:
Балалайка усовершенствованная В.В.Андреевым
и народная простая
www.skaz-site.narod.ru/archive_D.BELINSKOGO">Музыкальный мастер НАЛИМОВ С.И. - Интернет-Архив Дмитрия Белинского на Официальный сайте Квартета "СКАЗ". Балалайка, домра...- *Эпоха Возрождения*</a>.
http://skaz-site.narod.ru/Page2a.html
DIE VERÄNDERUNG DES BALALAIKAKORPUS :
Vom schmalen Flügel zum breiten Helm
Die weiter unten folgenden Bildbeispiele von Balalaiken des 19. Jhds. v o r Andrejew belegen einen s c h m a l e n Dreieckskorpus der Balalaika. Die alte Paddelform hat sich bereits vor dem 18.Jhd. zu einer erkennbaren schmalen Dreiecksform gewandelt.
Der Korpus dieser schmal-dreieckigen Balalaika erinnert an die nordrussische karelische Kantele, die ebenfalls einen schmalen Dreieckskorpus besitzt.
Ein solcher schmaler Dreieckskorpus begegnet heute in den Streichpsaltern.
Die Kantele ist eine Gusli, genauer gehört sie zum Typ der krylovidnye gusli, der
"Flügel-Gusli" (russ. krylo = der Flügel).
Die Urform der Kantele besitzt 5 Saiten und ist dementsprechend schmal.
Spätere Kantelen mit 10 und mehr Saiten besitzen ein ausgefächerteres Saitenfeld und sind dementsprechend breiter.
Diese breiteren Formen ähneln in ihrer Proportion den Korpora der in der folgenden Bilderschau gezeigten Balalaiken des 19.Jhds.
5 Saiten - 5 Bünde
Noch eine weitere Übereinstimmung zwischen Kantele und Früh-Balalaika: die Fünfsaitigkeit der Kantele fand ihre Entsprechung in der Fünfbündigkeit der Balalaika.
5 Bünde auf einer zweisaitigen Balalaika, die in e - a gestimmt ist, bedeuten aber einen Tonvorrat von 9 Tönen (= 1 Oktave plus 1 Ganzton): ein Vorteil gegenüber der Kantele.
(Siehe dazu: Die Stimmung der Balalaika)
Krylovidnaja balalaika (= schmalflüglig)
Die Balalaiken des 19. Jhds vor Andrejew hatten eine schmale Dreiecksform. Diese Form begegnet bei der nordrussischen Kantele und allgemein bei vielen Ausfüh-rungen der Gusli. Weil dieses schmale Dreieck an einen Vogelflügel erinnerte, wurden Guslis in dieser Form als "krylovidnyje gusli" benannt.
Da viele der frühen Balalaiken eine solche Gusliform aufweisen, können sie als "Flügelgusli-Balalaika" oder "krylovidnaja balalaika" bezeichnet werden.
Schlemovidnaja balalaika (= breitflüglig)
Andrejew verbreiterte 1884 den schmalen flügelförmigen Dreiecks-Korpus der Balalaika. Nach dem Vorbild der Schlemovidnye gusli (Helm-Gusli) gestaltete er die Balalaika zu einem breiten Dreieck. Dieses so vergrößerte Instrument hatte einen volleren Klang, vergleichbar mit dem Klang der schlemovidnye gusli.
Die Andrejew-Balalaika kann dementsprechend als Helmgusli-Balalaika oder als Schlemovidnaja balalaika bezeichnet werden.
1.2.1. Die Veränderung der Balalaika durch Andrejew
Perestroika Schritt 1:
Andrejew vergrößert den Balalaika-Korpus
Andrejew betrieb eine Perestroika der Balalaika. Mit Perestroika wird im Musikinstrumentenbau eigentlich nur ein Umstimmen der Saiten des Instruments bezeichnet. Das ist hier nicht gemeint. Gemeint ist eine grundlegende Veränderung der gesamten Form des Instruments. Der erste Schritt war eine Vergrößerung des Instrumentenkorpus.
In welchem Maß Andrejew den Korpus der Balalaika vergrößerte, ist aus dem Vergleich der beiden Schwarz/Weiß-Fotos oben ersichtlich.
Dreiecks-Balalaiken vor 1883 hatten eine Korpusbreite von ca. 26 cm. Andrejew vergrößerte die Breite auf ca. 43 cm.
Das untere Schwarz/weiß-Foto zeigt die Balalaika des Spielers Antip: die erste Balalaika, die Andrejew zu Gesicht bekam, und die zum Ausgangspunkt seiner Balalaikaentwicklung werden sollte.
Das Foto oben zeigt Andrejew mit der von ihm veränderten und von Passerbski gebauten Balalaika.
Eine Korpusbreite von ca. 43 cm kann seit Andrejew als die Richtnorm für eine Prim-Balalaika angesehen werden. 43-45 cm beträgt auch die freischwingende Länge (Mensur) der Primbalalaika.
V o r Andrejew variierten die Korpusformen und -größen der Balalaika. Eine einheitliche Norm gab es nicht. In russischen Nachschlagewerken aus sowjetischer Zeit sind verschiedenen Korpusgrößen und -formen dokumentiert.
Leider aber fehlt bei diesen Abbildungen eine Datierung. Auch sind die Dokumentation sehr mangelhaft, es sind meist nur Abbildungen mit Sicht auf die Korpus-Decke, Die Sicht von unten und von der Seite fehlt: ein großes Manko.
Andrejew entdeckte die d r e i e c k i g e Balalaika als die Balalaika, die ein erstaunliches und unübertroffenes Klangpotential besaß - anders als andersgeformte Balalaiken. Als Geigenspieler maß Andrejew die Ausstrahlungskraft des Balalaikaklanges am Klang der Violine, als russischer Volksmusikliebhaber und -kenner maß er den Balalaikaklang am Klang des zu seiner Zeit verbreitetsten russischen Nationalinstrumentes: der Gusli, deren Studium er sich ausgiebig widmete.
Um den Klang der Gusli zu erreichen, war es nötig, den kleinen dreieckigen Korpus der Balalaika zu vergrößern.
Michael Goldstein gibt in seinem Buch "Michael Ignatieff und die Balalaika" als Erklärung für die Korpusvergrößerung die Lautstärkeerhöhung an: Andrejew wollte das Instrument für den Konzertgebrauch geeignet machen. Die "Antip-Balalaika" mit dem kleinen Korpus war dafür aber zu leise. Um einen lauteren Klang zu erzielen, mußte der Korpus vergrößert werden.
So weit die Argumentation von Goldstein, den ich persönlich kennengelernt habe und den ich sehr schätze. Hier aber muß ich ihm widersprechen.
Korpusvergrößerung:
Nicht Lautstärkeerhöhung, sondern Klangoptimierung
Andrejew, so meine ich, wollte durch die Korpusvergrößerung nicht die Lautstärke erhöhen, sondern die Klangfarbe der Balalaika verändern.
Ein vergrößerter Korpus erzeugt nicht nur eine höhere Lautstärke ( so wie wenn man den Volume-Regler eines Amp hochdreht ), sondern vielmehr auch eine Klangveränderung: diese Tatsache ist jedem Musiker und Musikinstrumenten- bauer bekannt. Die Balalaika hatte schon vor Andrejew ihren vorher ovalen oder schaufelförmigen Körper immer mehr zu einer Dreiecksform hin verändert. Diese Dreiecksform bewirkte einen Klang ähnlich dem der karelischen Kantele und der Nowgoroder Gusli, die beide ebenfalls dreieckige Körper besaßen. Diese Gusli-Klangfarbe wollte Andrejew noch stärker zum Ausdruck bringen. Er tat es, indem er den schmalen Balalaikakorpus dem breiteren Guslikorpus anglich, damit die Klangfarbe der von den Russen geliebten Gusli auch in der Balalaika aufleuchtete.
Andrejew also wollte keine Lautstärkeerhöhung, sondern eine Klangoptimierung.
Die der schmalen dreieckigen Balalaika bereits innewohnende Gusli-Klangfarbe wollte er stärker hervorleuchten lassen.
1.2.2. Balalaika und Gusli
Andrejew erforschte nicht nur die Balalaika, sondern auch zwei andere russische Volksinstrumente:
1) die Domra ("runde Balalaika"mit bevorzugtem Tremolospiel), die er aus ihrer Versenkung befreite und neu baute.
2) die Gusli, das alte, dem Russen vertraute Nationalinstrument.
Die Gusli war d a s russische Volksinstrument schlechthin. Ihr Klang wurde von den Russen geliebt.
Andrejew verband Balalaika und Gusli miteinander., indem er die Balalaika nach der Gusli umformte. Das dominierende Tremolospiel der Domra übertrug er auf die Balalaika und machte es zu einer Spielart der Balalaika.
BALALAIKA-FORMEN VOR ANDREJEW BIS 1883
DOKUMENTATION :
Historische Balalaiken des MIMO-Projektes.
Balalaiken vor Andrejew 1883
("The pre Andreyev period")
Die ersten 4 Abbildungen der folgenden Bilderserie zeigen Balalaiken des 19. Jahrhunderts, die im MIMO-Projekt dokumentiert sind.
(MIMO) Musical Instrument Museums Online
ist ein Gruppenprojekt der europeana.eu mit dem Ziel, einen zentralen Zugang zu digitalen Informationen über Musikinstrumente in Europäischen Museen bereit zu stellen.
Provider: MIMO - Musical Instrument Museums Online
Die Verwaltung in Edinburg erteilte die Erlaubnis zur Wiedergabe der Instrumente mit der Auflage der Quellenangabe.
Derzeit (Stand 26.Dez.2012) sind 22 Balalaiken im Projekt aufgeführt.
Das Verzeichnis der B a l a l a i k e n im Mimo-Projekt ist zu finden unter:
http://www.mimo-db.eu/mimo/infodoc/Ged/search.aspx?QuickSearchField=balalaika&SearchIndex=%40fulltext_default_ifd_refdoc
(Achtung: Es gibt immer wieder Probleme beim Aufrufen der Mimo-URLs und beim korrekten Darstellen der Seiten !)
Historische Balalaika des 19. Jhds.
Dokumentation 1: ( MIMO-Projekt )
Musee de la musique, Paris
Longueur totale 648 mm.
Largeur 324 mm
Hauteur 80 mm.
Photographe: Germain, Claude
Besonderheiten:
1. Kein Schalloch, sondern kleine Bohrungen in der Instrumentendecke, so wie sie bei vielen historischen Saiteninstrumenten üblich sind.
2. Man beachte die große Brettdicke
der Sadinka!
http://www.mimo-db.eu/mimo/infodoc/Ged/View.aspx?eid=OAI_CIMU_ALOES_0968749&searchId=b5c0014a-27a1-4adc-a2ad-b1f370345090
Historische Balalaika des 19. Jhds.
Dokumentation 2: ( MIMO-Projekt )
Leider ist nur die Ansicht auf die D e c k e dokumentiert.
Man beachte das kleine Schallloch !
Länge: 680 mm
Breite: 265 mm
Halsmensur: 335 mm
Gesamtmensur: 504 mm
Schallloch Durchmesser:
6 mm
Saitenzahl: 3 Darmsaiten.
Anzahl der Bünde: 5 (?)
4 Bünde sind vorhanden
Abbildung und Beschreibung der Balalaika sind folgender Quelle entnommen:
Balalaika,
Inventarnummer 673
Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig.
:
Georg Kinsky, Katalog des Musikhistorischen Museums von Wilhelm Heyer in Cöln, Band II, Cöln 1912, S. 227.
http://www.europeana.eu/portal/record/09102/9F2DD383FE58C41471D78E8541D8C51ADFFFD8DE.html?start=15&query=balalaika&startPage=13
Provider: MIMO - Musical Instrument Museums Online
Historische Balalaika des 19. Jhds. Dokumentation 3: ( MIMO-Projekt )
Balalaika von 1869
Inventar-Nr.: V.Mi.437.
Musée municipal Auguste Grasset (Varzy, Frankreich)
Länge: 63 cm
Larg au bas de la caisse: 34 cm
http://www.europeana.eu/portal/record/09102/AF8BA7383700342C33B7DF8E001D5E1B68F5D1B2.html?start=27&query=balalaika&startPage=25
Historische Balalaika des 19. Jhds. Dokumentation 4: ( MIMO-Projekt )
Balalaika, vor 1866
Inventar Nr. 270
Muziekinstrumentenmuseum
Koninklijke Musea voor Kunst en Geschiedenis
Brüssel, Belgien
Länge: 63.0 cm,
Breite: 33.0 cm,
Höhe: 7.0 cm
KMKG-MRAH
http://carmentis.kmkg-mrah.be/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=117032&viewType=detailView&lang=nl
( Ende der Dokumentation aus Quelle: MIMO-Projekt )
Historische Balalaika des 19. Jhds.
Dokumentation 5: Museum in Krasnojarsk
Балалайка кустарного изготовления. XIX в, Енисейская губерния. Красноярский краеведческий музей.
A 19th century amateur-made balalaika from the Yeniseysk Governorate. The Krasnoyarsk Krai museum.
Bildnachweis:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ASiberian_Balalaika.jpg
By Efenstor (Own work) [CC0], via Wikimedia Commons
Dokumentation 6:
Balalaika des 19. Jhds. Illustration aus dem schwedischen Konversationslexikon
"Nordisk familjebok"
Dieses Bild stammt aus der ersten (1876–1899) oder zweiten (1904–1926) Version des Nordisk familjebok. Das Werk ist gemeinfrei.
Quelle: wikipedia commons.
From http://runeberg.org/nfbb/0407.html {{PD-Ugglan}}
Dokumentation 7:
Eine Balalaika aus dem 19.Jhd., gezeigt auf dem
Gemälde "Polnischer Balalaikaspieler" von E. Jerichau
Nicht nur in Russland wurde die Balalaika gespielt. Hier porträtierte die dänische Malerin Elisabeth Jerichau-Baumann einen polnischen Balalaikaspieler.
Wegen der Bordunsaite des Instruments wurde die Balalaika in Polen, wohl in Unkenntnis ihrer russischen Herkunft, "polnische Hummel" genannt.
Der Balalaikaspieler hier auf diesem Bild scheint a l l e Saiten zu greifen.
Also kein Bordunspiel, keine "Hummel-Balalaika". Kein Daumenspiel:
Der Spieler benutzt nicht den Daumen zum Greifen der äußeren tiefen Saite.
Beschreibung:
Balalaika, Vor-Andrejew-Periode
Schmaler dreieckiger Korpus
Schmales Wirbelbrett, kaum breiter als der Instrumentenhals
Quellenangabe des Bildes:
von Villy Fink Isaksen (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons
Dokumentation 8:
Balalaika des 19.Jhds,gezeigt auf dem Bild
"Russian family" des Künstlers
Wilhelm Amandus Beer ("Russen-Beer")
Beer (* 9. August 1837 in Frankfurt am Main; † 19. Januar 1907 ebenda).
Beer war ein Kunstmaler, der vor allem über Motive fremder Länder Beliebtheit erlangte. In seinem Werk überwiegen Darstellungen aus Russland und Darstellungen aus dem russischen Volksleben – dies trug dem Maler den Beinamen Russen-Beer ein. (Zitat aus wikipedia.de "Wilhelm A. Beer")
Beschreibung:
Das Bild zeigt eine typische Balalaika des 19. Jhds. der Vor-Andrejew- Periode:
Schmaler dreieckiger Korpus
Langer Hals
Schmales Wirbelbrett, kaum breiter als der Instrumentenhals
Bildnachweis:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/eb/Beer%2C_Russian-family.jpg
Dokumentation 9:
Skizze einer Balalaika aus dem Enzyklopädischen Wörterbuch von
F. A. Brockhaus und I. A. Jefron, St.Petersburg 1890 -1907
Энциклопедический словарь Ф.А. Брокгауза и И.А. Ефрона
Энциклопедический словарь Ф.А. Брокгауза и И.А. Ефрона.
— С.-Пб.: Брокгауз-Ефрон. 1890—1907.
Dokumentation 10:
Dokumentation einer Balalaika mit rundem ( ! ) Korpus.
Der russische Maler Петр Ефимович Заболотский (1803—1866)
(Pjotr Jefimowitsch Sabolotski) malte das Bild
"Junge mit Balalaika" im Jahr 1835.
Der Bildtitel beweist, dass "Balalaika" am Anfang des 19. Jhds. auch ein Lauten-Instrument mit rundem Korpus bzw. mit gerundetem paddelförmigem Korpus bezeichnen konnte.
Die genaue Form des Korpus-Umrisses ist nicht zu erkennen. Ersichtlich ist
auch nicht, ob die Korpusschale aus einem Kürbis besteht, oder aus einer aus einem massiven Holzstück herausgeschnitzten Holzschale oder aus einzelnen Holzteilen (Spänen) zusammengefügt ist.
Die Korpusdeckenform könnte sowohl oval als auch paddelförmig sein.
Beides sind historische Balalaikaformen.
Das Instrument hat 3 Saiten und scheint 4 oder 5 Bünde zu besitzen.
Dokumentation 11:
Balalaika aus der Werkstatt Iwan A. Sjusin (И.А.Зюзин)
St. Petersburg, ca.1900
Diese Balalaika ist eine frühe Form des Typs "Andrejew-Balalaika".
Über ihre Herkunft gibt der papierene Innenaufkleber Auskunft:
Sie stammt aus der Werkstatt des Balalaikabauers Iwan Sjusin in St. Petersburg, Zagorodnyj Prospekt 9. Dort arbeitete auch Galinis, der später nach seiner Lehrzeit bei Sjusin seine eigene Werkstatt eröffnete: vier Häuser weiter auf dem Загородный проспект 13.
Die oben gezeigte Balalaika besitzt noch keine Wirbel-Mechanik, sondern drei unterständige Steckwirbel (Geigenwirbel).
Des weiteren weist sie 2 Merkmale auf, die besonders bei Galinis-Balalaiken sehr häufig anzutreffen sind. Diese Merkmale betreffen Spänezahl und Mensur:
1. Sieben-Späne-Korpus
Die Korpusschale ist aus s i e b e n Spänen zusammengesetzt.
Diese ungradzahlige Spänemenge ist ein Merkmal von Passerbski-Balalaiken.
Nalimow dagegen baute Balalaiken mit einer gradzahligen Spänezahl.
Als Galinis nach dem Tod Nalimows 1916 die Leitung der Andrejewschen
Balalaikawerkstatt in Marjino übernahm, baute er dort wieder Balalaiken nach
altem Passierbski-Vorbild.
Passierbski- Balalaiken betonen durch ihren parallel zur Instrumentendecke
verlaufenden Mittelspan den K a s t e n - Korpustyp. Balalaiken mit Kasten-
korpora orientieren sich an der kastigen Bauweise der Gusli.
2. Andrejew-Mensur
Die Mensur der Balalaika besitzt das Maß von 9 7/8 Werschok (43,89 cm).
Das ist die alte, von Andrejew bevorzugte Mensur.
1 Werschok = 4,445 cm = der 16. Teil des Arschin, der russischen Elle.
Die Balalaika ist ein sehr einfaches Modell, sie ist aber sehr sorgfältig gearbeitet: die geleimten Verbindungsnähte zwischen den Spänen sind absolut lichtdicht.
Weitere Besonderheiten:
Sehr dünner Hals (2,5 cm stark). Geringes Gewicht: 500 Gramm.
Eine vergleichbare Balalaika (Tschernigow 077/118) wiegt 700 Gramm,
Der Saitensteg ist wohl original. Es gibt auf der Korpusdecke keine Abdrücke von anderen Stegen. Der Steg ist ungewöhnlich klein und schmal. Er besitzt nur eine geringe Auflagefläche auf der Korpusdecke. Die Steghöhe ist ebenfalls sehr gering. Sie beträgt 1 cm.
Die Maße der Balalaika sind:
Länge: 65 cm
Breite: 40 cm
Höhe: 9 cm
Halsbreite: 2,5 cm am Obersattel
3,3 cm am 16. Bund
Halsstärke: 2,5 cm
BALALAIKA UND GUSLI-PSALTERIUM
1.3.3. Andrejew, die Balalaika und die Gusli
Das Verdienst von Andrejew besteht nicht nur darin, daß er der B a l a l a i k a zu größerer Klangfülle und Ansehen verhalf, sondern daß er auch - in dem von ihm geschaffenen Balalaikatypus - der G u s l i ein Denkmal setzte.
Die Gusli ist ein Instrument, das eine große Tradition russischer Musikinstrumenten- kultur verkörpert.
Die Tradition der Gusli durfte formend auf die Tradition der Balalaika einwirken. In der Balalaika erhielt die Gusli sozusagen eine neue Gestalt.
Die funktionale Grundform der Gusli ist das Dreieck oder das Trapez. Die Balalaika als Laute weist dagegen keine zwingende funktionale Korpusform auf.
Der von Andrejew veränderte Balalaikakorpus orientiert sich an der Gusli. Nicht nur der Korpus der Balalaika in seiner Dreiecksform, sondern die Balalaika insgesamt weist eine Proportion auf, die an der Gusli Maß genommen hat.
1.3.4. Balalaika-Breite = Gusli-Breite = Länge der Mensur
Die Breite der Balalaika entspricht der Breite der Gusli mit gleicher Mensur.
Die Balalaika, obwohl sie ein der Länge nach verlaufendes Saitenfeld hat, folgt der Gusli-Regel, die aber nur für Instrumente mit einem quer verlaufendes Saitenfeld gilt ( Trapez-Gusli, Helm-Gusli ). Diese Gusli-Regel lautet:
Die B r e i t e
der Gusli (gemessen in Richtung des Saitenverlaufs) wird durch
die L ä n g e
ihrer längsten Saite bestimmt.
Wie soll es auch anders sein? Die Gusli-Regel ist eine banale Regel: natürlich muß die Korpusbreite des Gusli-Kastens nach der längsten Saite bemessen sein, sonst könnte die Saite nicht über den Korpus gespannt werden.
Was für die Gusli gilt, müßte eigentlich für die Balalaika ohne Belang sein.
Gusli und Balalaika sind von der Bauart her zwei völlig verschiedene Instrumente.
Die Gusli (in Dreiecks-, Trapez-, Halbrundform) ist eine Zither. Bei ihr verlaufen die Saiten q u e r über den Korpuskasten, in Richtung der Breite.
Die Balalaika ist eine Laute. Die Saiten verlaufen hier in Richtung der Länge über den Hals, d.h. über den Korpus hinaus) Die Korpusbreite ist für die Saitenlänge völlig ohne Belang. Instrumentenbreite und Saitenlänge haben bei der Balalaika nichts miteinander zu tun.
Und trotzdem wird bei der Balalaika die Gusli-Regel angewandt, deren Kurzform lautet:
Mensur der Balalaika = Korpusbreite der Balalaika
Die folgende Skizze einer Andrejew-Balalaika verdeutlicht diese Gusli-Regel.
Anfangs war die Balalaika sehr schmal. Andrejew vergrößerte das Breitenmaß schrittweise immer mehr, bis die Korpusbreite das Mensurmaß erreichte.
Von dieser Gusli-Proportion gibt es in der Praxis natürlich immer auch Abweichungen. Die Gleichung "Balalaika-Breite = Mensur" ist ein Orientierungsmaß.
Balalaikabauer bauen ihr Instrument oft nach eigenen Gesetzen. Sie sind keine Rechenmaschinen, sondern Individualästhetiker sowohl in der Formgebung des Instruments als auch im Klangentwurf.
Beispiel: Eine Balalaika mit der Mensur von 43 cm ( ca. 17 Zoll ) hat meist eine Korpusbreite von ebenfalls 43 cm (+/-). Die Mehrzahl der heute gebauten Balalaiken wenden diese "Gusli-Regel" an.
Einen bautechnisch begründeten vernünftigen Grund, die Gusli-Regel auf die Balalaika anzuwenden, gibt es nicht - und dennoch wird sie seit Andrejew verwendet: Zufall, Intuition oder Absicht?
Vielleicht ist dieses Gusli-Maß Zufall, aber mir scheint, daß diese Proportion von Andrejew beabsichtigt ist. Die Gusli, die Andrejew gut kannte, war mit ihrem dreieckigen Korpus das "Maß aller Dinge". Ihr Dreieckskorpus setzte auch Klang- maßstäbe. Was lag näher, als dieses Maß auf die Balalaika zu übertragen?
Wenn die Balalaika ihre Korpusbreite nach der Länge der schwingenden Saite bemaß, also nach Gusli-Regel gebaut wurde, dann bewahrte sie etwas Vertrautes. Die Gusli war den Russen seit dem 12. Jhd. vertraut.
Korpusgeometrie und Saitenlänge sind wichtige akustische Faktoren. Ihr Verhältnis zueinander beeinflußt und prägt den Klang, die "Sprache" des Instruments.
Wenn die Balalaika durch ihre Bauart in der Sprache und im Tonfall der Gusli "redete", an ihren Klang erinnerte, waren ihr die Herzen und Ohren der gusli-gewöhnten Zuhörer geöffnet.
Exkurs 1:
Die 4 verschiedenen Spielpositionen der Gusli
Brustschild - Laptop - Bauchladen - Tischplatte
Die Gusli ist eine Zither. Bei dieser gibt es hauptsächlich vier verschiedene Spielhaltungen:
1. Sie steht fast senkrecht auf den Knien des Spielers, gegen seine Brust
gelehnt. Dies ist auch die Spielhaltung der Balalaika.
2. Sie liegt waagerecht auf den Knien des sitzenden Spielers ("Laptop"-Position)
3. Sie hängt am Gurt waagerecht vor der Brust des stehenden Spielers:
"Bauchladen"- Haltung. Diese Spielart ist besonders bei den Wolga-Finnen
("Tscheremissen" verbreitet: in der Russischen Republik Mari-El.
zwischen Moskau und dem Ural ( Föderationskreis WOLGA, Verwaltungssitz
Nishnij Nowgorod).
Siehe: http://www.samoffar.ru/mari_goose.shtml
4. Sie liegt waagerecht auf dem Tisch vor dem Spieler
Am häufigsten wird die Gusli auf die erstgenannte Art gespielt, und zwar so, daß die lange Breite des Instruments auf den Knien des Spielers aufruht, und die kurze Breite ( mit den hohen Tönen ) gegen die Brust des Spielers gelehnt ist.
Seltener ist die Spielhaltung 2 anzutreffen.
Beim Dreiecks-Psalterium ruht die lange G r u n d s e i t e des Dreiecks auf dem Schoß des sitzenden Spielers, die (gekappte) Spitze ist gegen seine Brust gelehnt.
Die Spielposition der Balalaika
Bei der Balalaika ist es umgekehrt: Hier ruht die S p i t z e des Dreiecks auf dem Schoß des Spielers, zwischen den Beinen - die Seite des Dreiecks zeigt in Richtung der Brust des Spielers. Diese dem Psalterium gegenüber veränderte Spielhaltung der Balalaika ist durch den Hals der Balalaika bedingt.
Die Spielhaltung der Balalaika ist - da sie einen Hals besitzt - gegenüber der Spielhaltung des Psalteriums um 60 Grad verdreht.
Die Gusli mit ihrem "Glockenklang" war das Lieblingsinstrument der Russen. Die russischen Ohren waren an den Klang der Gusli gewöhnt. Wenn die russischen Heldengesänge, die Byliny, und die Volkslieder gesungen wurden, dann wurden sie mit dem Spiel auf der Gusli begleitet.
Die Gusli war nicht einfach zu spielen, sie besaß nicht wie die Balalaika zwei, sondern eine Vielzahl von Saiten: die einfachste Gusli, die nordrussische Kantele, hatte 5 Saiten, größere Ausführungen der Gusli besaßen bis zu 11, 12 und noch mehr, je nach Region und nach Vorliebe bzw. Talent des Spielers.
Es gab Zeiten großer Gusli-Begeisterung, und es gab Zeiten, da das Guslispiel verstummte. Die Gusli geriet mehr und mehr in Vergessenheit.
Der Formwandel der Balalaika
Und nun geschah etwas Unerwartetes. In der vergrößerten Korpusform der Balalaika wurde die Gusli wieder sichtbar und hörbar, und zwar in einer ihrer altbekannten Formen: in der Form der Schlemovidnye Gusli.
Der kleine Dreiecks-Korpus der alten Balalaika war nicht nur einfach maßstabsgetreu vergrößert worden, sondern die Flanken des Dreiecks wurden gerundet: nach dem Vorbild der Schlemovidnye Gusli.
Auch der Klang dieser Balalaika erinnerte sehr an den Klang der vertrauten Gusli.
Die Balalaika hatte der Gusli gegenüber einen Vorteil: Bei der Balalaika brauchten nicht so viele Saiten besorgt, aufgezogen und gestimmt werden wie bei der Gusli.
Die Balalaika besaß nur 2 oder 3 Saiten ( die 3-saitige ist seit 1842 bezeugt. Siehe 4.2. Reiseberichte ). Und trotz der zwei oder drei Saiten hatte die Balalaika den gleichen Tonumfang wie eine 12 saitige Gusli.
Exkurs 2:
Balalaika-Tympanon
Andrejew vergrößerte nicht nur den Baklalaikakorpus, sondern entfaltete das vorher spitzwinklige Dreieck zu einem fast gleichseitigen Dreieck. Spätere Balalaikabauer haben diese Dreiecksfläche künstlerisch ausgestaltet.
Ein solches szenisch-dekorativ gestaltetes Dreiecksfeld begegnet auch in der Architektur.
In der Baukunst ist es bekannt als Tympanon.
Es begegnet vielfach über den Eingangsportalen gotischer Kathedralen.
Das Wort tympanon ist griechisch und verweist auf die Welt der Musik. Tympanon bedeutet Trommel. Dreieckige Psalterien wurden im Mittelalter nicht nur als Zupfinstrumente benutzt, sondern die Saiten wurden mit Hölzern geschlagen: die Psalterien wurden zu "Hackbrettern" bzw. Trommeln. Die Schlaghölzer wurden wie Trommelschlägel benutzt. Statt auf ein Trommelfell schlugen sie auf das Saitenfeld des Psalteriums.
Das Psalterium wurde zur "Trommel", zum dreieckien "Tympanon".
Tympanon = Trommel
Sehr allgemein betrachtet, stellt der mit Holz gedeckte Balalaikakorpus einen Trommelkörper dar. Trommeln sind älter als Saiteninstrumente. Bevor über die Öffnung eines Troges Saiten gespannt wurden ("Trogzither"), diente längst ein solcher Trog (offen oder mit Fell bespannt) als Trommel.
Trommeln sind nicht immer nur zylinderförmig, sondern können jede Form haben. Denken wir nur an die heute sehr verbreitete aus Peru stammende Kajon, die aus einer quaderförmigen Holzkiste besteht ("Kastentrommel", "Sitztrommel").
Wie oben dargelegt, wurde auch das dreieckige Psalterium als Trommel benutzt:
man trommelte zwar nicht auf das Holz, sondern trommelte (=schlug) mit einem Hammer auf das Saitenfeld.
Bisweilen setzen auch Balalaikaspieler ihr Instrument als Trommel ein, indem sie, um besondere Rhythmuseffekte während des Spiels zu erzielen, mit den Fingerknöcheln oder -kuppen auf die Decke des Instruments klopfen. Aber für diese Kollateralverwendung ist die Balalaika eigentlich nicht gebaut.
Zum Trommeln gibt es den Pastuschij baraban, der in seiner ganzen Fläche ein "Schlagbrett" darstellt und der - entsprechend dem architektonischen Tympanon-Feld - dekorativ künstlerisch gestaltet ist. Der Pastuschij baraban besteht aus Ahorn- oder Birkenholz. Obwohl das Instrument keinen hohlen Resonanzraum besitzt, hat es doch häufig mehrere Schalllöcher.
Beim Spielen wird der Gurt der Hirtentrommel um den Hals geführt, das Schlagbrett hängt vor dem Bauch und wird mit 2 Stäben geschlagen.
Weitere Infos: 3.1.